THOMAS KEMPER MALEREI






Peter Lodermeyer

PRESENTLY - SARAH WALKER (USA), NELLEKE BELTJENS (NL), THOMAS KEMPER (DE)

Schon ein oberflächlicher Blick auf die Arbeiten von Sarah Walker, Nelleke Beltjens und Thomas Kemper zeigt, was Technik und Formensprache angeht, deutliche Unterschiede zwischen ihnen. Die drei Künstler haben sich über viele Jahre hinweg jeweils eigene Auffassungen von Bildlichkeit erarbeitet und entsprechende künstlerische Verfahrensweisen entwickelt. Die drei Personalstile erweisen sich als so originär, dass zwischen ihnen gewiss keine Verwechslungsgefahr besteht. Umso erstaunlicher ist es, zu sehen, wie gut diese drei Positionen in der Ausstellung „Presently“ dennoch zusammenwirken, wie perfekt sie sich gegenseitig ergänzen und bestätigen. Die Gründe dafür sind vielfältig; die auffälligste, sogleich ins Auge springende Ursache dafür ist sicherlich die Tatsache, dass alle drei Künstler Bildlösungen von hoher Komplexität favorisieren. Wer sich in die (tatsächlich oder scheinbar) quadratischen Bildfelder von Sarah Walker vertieft, wird unweigerlich in einen hypnotischen Sog geraten, der sich aus der Überfülle von Formen und Farben, kleinteiligen Strukturen, widersprüchlichen Andeutungen von Räumlichkeit, von Symmetrien und Symmetriebrüchen ergeben. Damit ist nicht nur das Sehen aufs Äußerste herausgefordert, sondern auch seine Assoziationsfähigkeit und Vorstellungskraft des Betrachters. Bei Nelleke Beltjens werden die kreisrunden, aquarellierten Farbflächen ihrer neuen Serie „Suns and Moons of All Times“, die wie Himmelskörper schwerelos im weißen (Vorstellungs-)Raum der Bilder schweben, von zahllosen, staccatoartig aufgereihten Strichen flankiert oder gar durchquert. Dazu finden sich unzählige Schnitte, die den aufmerksamen Betrachter wissen lassen, dass aus dem Papier eine Vielzahl von Fragmenten ausgeschnitten und versetzt wurde. Tatsächlich trägt jede der fünf Arbeiten der Serie Elemente der vier anderen in sich, die untereinander in einem verwickelten Stoffwechselprozess ausgetauscht wurden. Auch die Arbeiten Thomas Kempers erweisen sich als visuell überaus vertrackt. Vor allem fällt der ständige rhythmische Wechsel zwischen monochromen Flächen und Partien ins Auge, die Offenheit, Dynamik und Räumlichkeit andeuten. Mit ihren Kontrasten und dem Spiel von Kontinuität und Diskontinuität von Farben und Formen schaffen sie eine verwirrende, vor- und zurückspringende Bildräumlichkeit, die den Blick des Betrachters in unabschließbare Bewegung versetzt. Seine mit Ölfarbe und Alkyd gefertigten, zudem mit Zerschneidung und Neuzusammensetzung arbeitenden Werke stehen gewissermaßen vermittelnd zwischen der Malerei von Sarah Walker und den Zeichnungen von Nelleke Beltjens.

Was die Arbeiten der drei Künstler untereinander vielleicht noch mehr verbindet als ihr Hang zu komplexen Bildordnungen, ist ihre prozessuale Arbeitsweise. Sie alle arbeiten nicht nach vorgefassten Plänen und vorskizzierten Ideen, sondern überlassen sich einem langwierigen Prozess mit offenem Ausgang. Diese Haltung ist ein wenig dem Schachspiel vergleichbar: Jede Entscheidung, jede Änderung am Bild modifiziert das aktuelle Ganze und macht einen weiteren „Zug“ erforderlich, der darauf angemessen reagiert – und so weiter. Da die Entscheidungen in aller Regel irreversibel sind, erfordert dies Umsicht, eine genaue Beobachtung des jeweils gegebenen Zustandes und ein hohes Maß an Intuition. So entwickelt sich eine Arbeit Schritt für Schritt, reichert sich mit Komplexität und dadurch mit Entscheidungsmöglichkeiten an, bis irgendwann ein Zustand erreicht ist, der sich als stringent erweist und bei dem ein Weiterarbeiten keinerlei Steigerung oder Verbesserung mehr verspricht. Diese Arbeitsweise ist beim aufmerksamen Betrachter zumindest teilweise nachvollziehbar. Man kann nämlich sehr deutlich sehen, wie Sarah Walkers Bilder aus vielen Schichten aufgebaut sind, wie sie gewisse Partien hat stehen lassen, andere aber übermalt hat, sodass sich ein überbordendes, konstruktiv-destruktives Raumgefüge aufgebaut hat. Bei Nelleke Beltjens vermitteln vor allem die Schnitte und Versetzungen, wenn man sie einmal wahrgenommen hat, ein Gefühl für ihre langwierige, minutiöse Arbeitsweise aus Konstruktion und Dislokation. Und bei Thomas Kemper sticht die überaus präzise Anordnung der zurechtgeschnittenen Fragmente ins Auge, aus denen sich seine irregulären, in alle Richtungen zugleich drängenden, das traditionelle rechteckige Bildformat sprengenden Arbeiten aufbauen.

Mit der prozesshaften Arbeitsweise der drei Künstler lässt sich zugleich so etwas wie ein Arbeitsethos erahnen. Denn wer sein Bild in einem aufwendigen, komplizierten Werdeprozess entwickelt und sich dabei von dem leiten lässt, was Wassily Kandinsky einmal treffend als „innere Notwendigkeit“ bezeichnete, muss sowohl Verantwortung gegenüber seinem Werk übernehmen – die einzelnen „Züge“ lassen sich ja nicht zurücknehmen, hier ist praktisch keine Korrektur möglich –, als auch Vertrauen haben. Gemeint ist das Vertrauen darauf, dass sich aus den vielen, je für sich notwendigen Entscheidungen zuletzt ein stimmiges, ein gültiges Werk ergibt, auch wenn es keine Möglichkeit gibt, das Endresultat in irgendeiner Weise zu antizipieren. An diesem Punkt wird der Titel „Presently“ verständlich: In jedem gegenwärtigen Moment gilt es, Entscheidungen zu treffen, den nächsten Schritt zu tun – solange, bis sich aus der unendlichen Fülle der Möglichkeiten die eine Verwirklichung ergeben hat. Im jeweiligen Moment der Betrachtung wird dieser Vorgang dann noch einmal lebendig und als ästhetische Erfahrung aktualisiert.



ENGLISH VERSION:

Presently. Sarah Walker, Nelleke Beltjens, Thomas Kemper

Even a superficial glance at the works of Sarah Walker, Nelleke Beltjens, and Thomas Kemper reveals clear differences between them in terms of technique and formal language. Over many years, the three artists have each developed their own conceptions of pictoriality and corresponding artistic procedures. The three personal styles prove to be so original that there is certainly no danger of confusion among them. It is all the more astonishing to see how well these three positions nevertheless work together in the exhibition "Presently", how perfectly they complement and confirm each other. The reasons for this are manifold; the most striking, immediately eye-catching cause is certainly the fact that all three artists favor pictorial solutions of high complexity. Anyone who delves into Sarah Walker's (actual or apparent) square picture fields will inevitably fall into a hypnotic maelstrom resulting from the profusion of shapes and colors, small-scale structures, contradictory hints of spatiality, of symmetries and symmetry breaks. This not only challenges the viewer's vision to the utmost, but also his ability to associate and his imagination. In Nelleke Beltjens' new series "Suns and Moons of All Times", the circular, watercolored color surfaces, which float weightlessly like celestial bodies in the white (imaginary) space of the paintings, are flanked or even traversed by countless strokes lined up staccato-like. In addition, there are countless cuts that let the attentive viewer know that a multitude of fragments have been cut out of the paper and displaced. In fact, each of the five works in the series carries elements of the other four, which have been exchanged among themselves in an intricate metabolic process. Thomas Kemper's works also prove to be visually exceedingly intricate. Most striking is the constant rhythmic alternation between monochrome surfaces and sections that suggest openness, dynamism, and spatiality. With their contrasts and the play of continuity and discontinuity of colors and forms, they create a confusing pictorial spatiality that jumps back and forth, setting the viewer's gaze in unfinishable motion. His works, which are made with oil paint and alkyd and also involve cutting up and recomposition, stand, as it were, as an intermediary between the painting of Sarah Walker and the drawings of Nelleke Beltjens.

What perhaps connects the works of the three artists even more than their penchant for complex pictorial orders is their processual way of working. They all do not work according to preconceived plans and pre-sketched ideas, but leave themselves to a protracted process with an open outcome. This attitude is somewhat comparable to the game of chess: every decision, every change to the picture modifies the current whole and necessitates another "move" that responds appropriately - and so on. Since the decisions are usually irreversible, this requires circumspection, a close observation of the given condition and a high degree of intuition. Thus a work develops step by step, enriches itself with complexity and thereby with decision possibilities, until at some point a condition is reached, which proves to be stringent and with which further work promises no more increase or improvement. 
This way of working is at least partially comprehensible to the attentive observer. One can see very clearly how Sarah Walker's paintings are built up from many layers, how she has left certain parts standing, but painted over others, so that an exuberant, constructive-destructive spatial structure has built up. In the case of Nelleke Beltjens, it is above all the cuts and dislocations that, once perceived, convey a sense of her lengthy, meticulous working method of construction and dislocation. And in the case of Thomas Kemper, the extremely precise arrangement of the cut fragments, from which his irregular works are built up, pushing in all directions at once, bursting the traditional rectangular picture format, catches the eye.

The processual working method of the three artists also suggests something like a work ethic.
For anyone who develops his picture in a complex, complicated process of development, guided by what Wassily Kandinsky once aptly described as "inner necessity," must both assume responsibility for his work - the individual "traits" cannot be taken back, there is practically no correction possible here - and have confidence. What is meant is the confidence that a coherent, valid work will finally result from the many decisions that are each necessary in themselves, even if there is no possibility of anticipating the final result in any way. At this point the title "Presently" becomes understandable: in each present moment it is necessary to make decisions, to take the next step - until the one realization has emerged from the infinite abundance of possibilities. In the respective moment of contemplation, this process then comes alive once again and is actualized as an aesthetic experience.