THOMAS KEMPER MALEREI










SABINE ELSA MÜLLER ÜBER DIE ARBEITEN AUF PAPIER 2022


Thomas Kemper – Ausschnitt

Konzentration. Konzentration ist ein Hauptmerkmal dieser Arbeiten. Auf einer kleinen Fläche konzentriert sich ein dichtes Geschehen, dessen Vielfalt an Formen, Farben, Bewegungsrichtungen und Lichtintensitäten durch starke Energien der Anziehung und Abstoßung in prekärer Balance gehalten wird. An dieses beständige Aufpoppen immer neuer Ausschnitte und Fenster muss sich das Auge erst gewöhnen. Es muss sich eine Weile auf diese Bilder fokussieren und die Details eines nach dem anderen abtasten, dabei immer wieder zwischen dem Fragment und dem Ganzen hin und herspringend. Es kommt nicht zur Ruhe. Die Sehbewegung findet keinen Abschluss. Diese Bilder sind nichts für Harmoniebedürftige, aber ebenso wenig für Liebhaber schnell konsumierbarer Effekte. Wie bei der Entstehung ist auch bei der Betrachtung höchste Konzentration erforderlich.

Beim Ausgangsmaterial handelt es sich um pure Malerei. Wer Thomas Kemper kennt, schätzt sein feines Gespür für Farbwerte, seine Präzision, die Geduld, mit der er den Dingen die von ihnen benötigte Zeit lässt, aber auch eine feine Sensorik für minimale Schwankungen der zeichnerischen Bewegung. Die Perfektion der Oberflächen kommt nicht von ungefähr. Wie die kostbaren Tropenholzfurniere und Elfenbeinplättchen von Intarsien, an die Kempers Papierarbeiten mit ihren planen Oberflächen erinnern, ist in ihnen Zeit und eine mit äußeren Bedingungen verbundene, sehr individuelle Geschichte eingespeichert.

Es gibt zwei Arten von Ausgangsmaterial, die beide gleichermaßen am Bildaufbau beteiligt sind: Geschlossene Farbflächen und offene Strukturen mit bewegten Pinselspuren. In beiden Fällen findet ein sehr glattes Papier im DIN A3-Format Verwendung. Bei den geschlossenen Farbflächen fällt die ungewöhnliche Brillanz ins Auge. Sie erklärt sich aus ihrem schichtweisen Aufbau aus dünnen Lasuren, die durch ihre Transparenz das Licht durchscheinen lassen, so dass es vom weißen Papiergrund reflektiert wird. Ganz ähnlich brachte schon bei Kempers Malerei auf Aluminium der 1990er Jahre, und mit besonderer Strahlkraft bei der später einsetzenden Malerei auf Plexiglas das Licht die Farbe zum Leuchten. Der lichthafte Eindruck korreliert mit einer hohen Farbsättigung dank bis zu 60 übereinander liegender Lasuren. Die Makellosigkeit und Leuchtkraft der Farben mit ihrer wie von innen beleuchteter Intensität ist ein Markenzeichen der Malerei von Thomas Kemper. Im Farbaufbau aus verschiedenfarbigen Schichten entwickelt er eine große Bandbreite delikater Farbtöne, bei denen die Zusammenwirkung von Komplementärfarben eine große Rolle spielt. Die ausgeprägte Subtilität dieser Farbmalerei auf Papier ist das Ergebnis einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Malerei seit Kempers Anfängen in den 1980er Jahren.

Auch der Ansatz der zweiten Gruppe lässt sich zurückführen in diese frühe Zeit und wurde seitdem immer weiterentwickelt: Am Anfang steht hier die Zeichnung, die Thomas Kemper schon früh als Blindzeichnung, das heißt, als ein Zeichnen, ohne auf das Blatt zu schauen, praktizierte. Waren es anfangs noch Nachzeichnungen nach Vorbildern aus der Kunstgeschichte, so löste sich der Künstler schließlich von äußeren Referenzen und ging zu einer Zeichentechnik über, die als ein Nachspüren der eigenen subjektiven Bewegungsabläufe beschrieben werden kann. Die Hand, als das mit dem Körper und dem gesamten Menschen verbundene, ausführende Organ, schreibt wie ein Seismograf dessen innere Bewegung als Bleistiftlinie nieder. Die konzentrierte Aufmerksamkeit richtet sich auf diese innere Bewegung. So stellt die Zeichnung nichts dar, sondern ist reiner Ausdruck körperlicher Präsenz, Emotionalität und Lebendigkeit.

Die Zeichnung mit dem Stift wurde in einen malerischen Zusammenhang übertragen und in Öl und Alkyd ausgeführt, zuerst auf Aluminium als Träger, dann auf Plexiglas und nun auf Papier. Hier erscheint sie als breite Pinselspur, deren Transparenz und modulierte Auffächerung in haarfeine parallele Linien durch die Zugabe von Alkyd erst ermöglicht wurde. Der Farbcharakter dieser Pinselzeichnungen lässt sich durch darübergelegte Farblasuren weiter modifizieren.

Die ersten Arbeiten aus dieser Werkgruppe entstanden 2014. Ihnen lagen noch ausschließlich die Pinselzeichnungen zugrunde. Wenige, das heißt drei, vier, fünf Malereifragmente ergänzten sich zu einem Gesamtkomplex, in dem sich die Zeichnung in unterschiedliche Arten der Verfasstheit, Farbstimmung oder Nervosität zersplitterte. Es entwickelte sich die für die ganze Gruppe typische, sich kristallin aus der Fläche entfaltende Räumlichkeit. Mit zunehmender Verfeinerung der Collagetechnik und unter Einbeziehung monochromer Flächen entstand schließlich diese ungeheure Komplexität und Formenvielfalt. Der Schlüssel dazu ist der rigorose Schnitt quer durch das Bild. Im Gegensatz zu Intarsien oder auch zur klassischen Collage werden nicht einzelne Formen ausgeschnitten und zu einem Bild zusammengefügt, sondern die gesamte Bildfläche wird mit einem Schnitt in zwei Hälften geteilt, die daraufhin miteinander verglichen werden, um zu entscheiden, mit welcher Hälfte weitergearbeitet werden soll. Durch den Schnitt wird das bisherige Ergebnis komplett zerstört, aber auch geöffnet, damit etwas Neues entstehen kann. Voraussetzung dazu ist das Material Papier. Es passt sich mit seiner unvergleichlichen Mischung aus Widerstandskraft und Flexibilität einer Kompositionsweise an, die nicht auf Beständigkeit setzt, sondern auf leicht herbeizuführende Veränderlichkeit, um schnell immer wieder neue Bezüge auszutesten.

Sowohl in der Binnenstruktur als auch in der äußeren Kontur können auf diese Weise überraschend bizarre Formen entstehen, die einen hohen Grad an Expressivität und Dynamik aufweisen. In letzter Zeit hat Thomas Kemper diese explizite Extrovertiertheit wieder etwas zurückgenommen. Die jüngsten Ergebnisse sind tendenziell am klassischen Bildrechteck orientiert. Mit der Beruhigung der Einzelform korreliert eine Angleichung der Elemente untereinander. Sie sind sich tatsächlich ähnlicher denn je, sowohl was die Form als auch die Farbigkeit betrifft, lassen aber durch die ausgeprägte Prägnanz jedes Fragments die lebendige Struktur wie unter dem Mikroskop deutlich hervortreten. Feine Nuancen fallen plötzlich ungeheuer ins Gewicht. Anstelle des vorigen Eindrucks einer räumlich sich aus der Fläche hervorbäumenden Konstruktion entsteht ein Flirren vor den Augen. Der konstruktiv-architektonische Raumeindruck verändert sich zu einem Vor- und Zurückspringen in der Fläche.

Bewegung. Bewegung ist ein weiteres Hauptcharakteristikum dieser Arbeiten. Sie findet auf mehreren Ebenen statt. War es die fließende Bewegung der zeichnenden Hand, die sich in den Windungen und Richtungswechseln der Zeichnung eingeschrieben hat, so lässt sich die gesamte Bildfläche als ein von Raumsprüngen durchfurchtes Feld erleben. Zwischen ähnlichen Details werden farbig hervorgehobene Einsprengsel platziert, so dass häufig harte Kontraste den Bildaufbau bestimmen. Besonders die sehr hell gefärbten monochromen Flächen wirken zuweilen wie Löcher, durch die das Außenlicht eindringt. Sehr dunkle Zonen lassen wiederum an Verschattungen denken. Kontinuität und Bruch wechseln einander ab. Während die Gesamtsicht auf die Arbeit von einer Distanz aus ein harmonisches Kontinuum darbietet, machen sich die Unterschiede im Mikrobereich desto stärker bemerkbar, je näher die Betrachtung heranrückt. Deshalb ist die eigene Bewegung bei der Betrachtung wichtig. Erst wenn man sich den Arbeiten immer wieder aus anderen Perspektiven nähert und entfernt, zeigt sich, wie gegensätzlich die ästhetischen Prinzipien sind, aus der sich die Wahrnehmung von Ganzheit aufbaut.

Thomas Kempers Arbeiten auf Papier spielen komplexe Beziehungsmöglichkeiten durch, die nahezu diametral entgegengesetzte Phänomene in einen vielfältigen Zusammenhang einbinden, der ihnen jedoch ihre Einzigartigkeit belässt. In diesen aus Fragmenten aufgebauten Arbeiten herrscht eine quirlige, lustvolle und immer wieder neu zu verhandelnder Koexistenz von Autonomie und Eingebundensein, Ruhe und Bewegung, Auseinanderstreben und Zusammenhalt. Die Malerei eröffnet ein weites Feld assoziativer Erinnerungsbilder an Architektur, Natur oder Unterwasserlandschaften, ohne irgendetwas zu erfinden. Sie entfaltet aber gerade darin eine Formen- und Farbenpracht, die geheimnisvoll und unbekannt erscheint, die es zu entdecken gilt, und deren Gestalt sich im Akt der Betrachtung unentwegt wandelt und immer wieder anders zeigt. Darin offenbart sich die ausschnitthafte Natur des Schauens und eine Ahnung von der unfassbaren Fülle und Grenzenlosigkeit der Welt.


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